Störche am Müllplatz fotografiert von Hans-Heiner Bergmann

Wenn Störche wandern

Weißstörche sind bei uns in ihrem engsten Brutgebiet nicht gerade gesellig. Das ändert sich aber auf ihrem Zug in den Süden und im Winterquartier. Hans-Heiner Bergmann hat sie dabei beobachtet.


Text: Robert Lücke.

Unsere Weißstörche sind nun größtenteils schon weg und auf dem Weg ins Winterquartier oder bereits dort angekommen. Bei uns kennen wir sie in der Regel nur paarweise. Sie brüten alleine auf Gebäuden und verjagen Artgenossen meist ziemlich aggressiv, weil der Nahrungsvorrat im Revier für mehrere Paare nicht ausreicht. Erst im Osten und Süden Europas treten sie als Koloniebrüter auf: Mehrere Horste auf Bäumen, Hausdächern oder Felsen direkt nebeneinander sind dort keine Seltenheit. Sehr sozial zeigen sich die Vögel auch dann, wenn sie auf ihren Wanderungen zwischen Brutgebiet und Winterquartier unterwegs sind – beispielsweise in Israel. 

Ein Bauer bearbeitet mit seinem Trecker gerade einen ausgedehnten Acker zwischen steilen Berghängen im Jordantal. Der Traktor fährt hin und her und zieht einen starken Pflug. Etwas abseits rastet eine Schar von etwa 200 Weißstörchen. Einige picken am Boden nach hochgepflügten Kleintieren, andere stehen einfach herum und ruhen. Ringsum und zwischen ihnen haben sich zahlreiche Schwarzmilane niedergelassen. Neue Weißstörche kommen hinzu und landen zwischen den Artgenossen, andere fliegen auf, kreisen im Hangaufwind und nehmen „Fahrt“ auf. Auch die Schwarzmilane hält es nicht lange. Plötzlich sind Hunderte von ihnen in der Luft, bilden einen kreisenden Wirbel und gewinnen schnell an Höhe, bis sie ebenfalls südwärts weiterziehen. So wiederholt sich das alljährlich in Herbst und Winter und dann, in umgekehrter Richtung, im nächsten Frühling. 

Ortswechsel: Der riesige Müllplatz liegt etwa 80 Kilometer nördlich von Jericho, gilt als die größte Mülldeponie des Nahen Ostens und sammelt den Hausmüll aus großen Teilen des Landes. Entsprechend intensiver Geruch steigt von ihm auf, wenn man sich nicht gerade auf der Luvseite des Platzes befindet, aus der der Wind kommt. Schon aus der Ferne sieht man viele dunkle Vögel über der Region kreisen, aus der Nähe am schwach eingebuchteten Schwanz erkennbar: Es sind wieder Schwarzmilane. Für sie ist Ende August und im September die hauptsächliche Zugzeit Richtung Süden. Ab Ende Februar geht es zurück in die nördlichen Brutgebiete. Dann ist die Deponie ein attraktiver Rastplatz für sie – offenbar finden sie hier reichlich Nahrung. Die wahrhaft die Deponie beherrschende Vogelart aber ist der Weißstorch. Auf den vom Bagger zusammengeschobenen Müllbergen stehen sie zu Dutzenden, ja zu Hunderten nebeneinander. Werden sie durch das Fahrzeug gestört, fliegen sie mit einigen Flügelschlägen ein Stückchen weiter, bleiben aber auf der Fläche. Einige Einzelvögel haben einen aussichtsreichen Standplatz auf einer Laterne erobert, eine weitere kleine Gruppe hat sich außerhalb der eingezäunten Müllzone auf einem Erdhügel niedergelassen. Mag sein, dass viele der Vögel hier nur eine kurze Rast einlegen und morgen bei gutem Aufwind ihren Weg nach Süden fortsetzen. Für andere scheint das jedoch nicht zu gelten – ihr über und über beschmutztes Gefieder deutet auf einen längeren Aufenthalt hin. Sie locken mit ihrer Anwesenheit immer wieder die über ihnen vorbeiziehenden Artgenossen an.

Im weiten Jordantal wechseln sich Ackerflächen mit Feuchtgebieten ab. In der Nähe eines solchen Feuchtgebietes mit Teichen und Sümpfen hat sich auf Binnendünen eine größere Gruppe von Eukalyptusbäumen entwickelt. Hier liegt ein bekannter Schlafplatz von Schwarzmilanen. Gegen Abend werden es immer mehr der dunkelbraunen Vögel, die aus der Ackerflur herüberkommen, um in den Bäumen zu ruhen. Doch jetzt stellen sich auch die ersten Störche ein. Sie lassen sich auf den obersten Ästen der Bäume nieder, fliegen aber immer wieder auf, um den Platz zu wechseln. Oft sind es fünf oder zehn von ihnen, die eine Baumkrone besetzen. Nur sehr allmählich kehrt bei sinkender Dämmerung Ruhe ein.

Nahe einer viel befahrenen Fernstraße steht ein Einzelbaum. Er ist über und über mit rastenden Störchen besetzt, die hier offenbar die Nacht verbringen werden. Der vorbeiströmende Verkehr stört die Vögel anscheinend wenig. Vielleicht sind sie aus ihrem Winterquartier, vielleicht auch aus dem Brutgebiet die Unruhe gewöhnt. Morgen werden sie aufbrechen, sobald die Sonne den Boden wärmt und die Luft aufsteigen lässt. Nur bei guter Thermik können sie als Segelflieger ihre Wanderung ins Winterquartier im mittleren oder südlichen Afrika fortsetzen: Kreisen, Höhe gewinnen und dann im Gleitflug Strecke machen, das ist ihre Strategie. Im Winterquartier angekommen, bleiben sie gesellig, auch auf dem Flug zurück ins Brutgebiet. Zu Hause werden sie sich auf ihre Horstplätze verteilen und fürs Erste auf die bisherige Geselligkeit verzichten – bis zum nächsten Spätsommer, wenn sie sich erneut sammeln für den Flug nach Süden.

Wie die letzte weltweite Erfassung der Weißstörche im Jahr 2004 ergab, erreichte die östliche Population damals eine Größe von etwa 180.000 Paaren – Tendenz ansteigend. Zu dieser Ostpopulation gehören die Vögel Mitteleuropas und Osteuropas. Auch die damals etwa 4.500 deutschen Brutpaare gehören der Ostpopulation an. Westlich einer Zugscheide, die von Holland südostwärts verläuft, gibt es dann Vögel, die über die Iberische Halbinsel und Gibraltar nach Westafrika ziehen. Die Störche der Ostpopulation dagegen umrunden im Herbst und Frühjahr jeweils das Mittelmeer im Osten. Die Vögel passieren die Dardanellen, überwinden Kleinasien und wenden sich dann südwärts. Auf dem Heimzug geht die Reise dann in umgekehrter Richtung. Israel liegt also jeweils genau auf ihrer Zugroute, und es ist möglich, dass hier zu beiden Zugzeiten jeweils weit über 300.000 Weißstörche durchziehen. Die meisten deutschen Vögel dürften auch dabei sein. Inzwischen überwintern aber immer mehr Weißstörche rund ums Mittelmeer: die Westzieher auf der Iberischen Halbinsel, die Ostzieher im Nahen Osten wie hier Israel - gar nicht zu reden von den Störchen, die bei uns in wachsender Zahl den Winter verbringen. 

www.naturgucker.de