Foto: Markus Leinberger

Vom Kiesteich zum Vogelparadies

Die Auenlandschaft Hohenrode an der Oberweser ist ein gutes Beispiel für erfolgreichen Naturschutz: Dank des NABU brüten hier viele bedrohte Arten. Doch Fischer drohen, die biologische Vielfalt zu stören.


Text: Thomas Brandt (NABU-Mitglied)

Nick Büscher blickt zufrieden auf die glitzernde Wasserfläche eines Kiessees. Gerade landet ein Trupp Graugänse auf der sich leicht vom Wind kräuselnden Wasserfläche. Ein Stück weiter, im Windschatten einer spärlich bewachsenen Insel, jagt eine Flussseeschwalbe nach Fischen – bis plötzlich helle Aufregung die mehreren Hundert Vögel am Kiessee nahezu gleichzeitig erfasst. Zunächst treibt es die Hunderte Graugänse, dann auch einen Trupp Reiherenten in die Höhe – ein Seeadler ist am blauen Himmel zu sehen. Gerade überquert er einen der direkt benachbarten Kiesseen und fliegt direkt vor der noch weit entfernten Kulisse der Schaumburger Berge entlang, dem Wahrzeichen des gleichnamigen niedersächsischen Landkreises. Es dauert nur wenige Sekunden, bis sich die Flussseeschwalbe von der Beutejagd ab- und mutig dem großen Greifvogel zuwendet. Laut rufend attackiert sie den viel größeren Gegner. Kurze Zeit später sind zwei weitere Seeschwalben da und schließen sich dem Angriff an. Der Seeadler scheint das zu kennen. Er ändert zunächst gemächlich seinen Kurs und fliegt dann plötzlich und überraschend wendig in Richtung Insel und landet an deren Ufer. Die Seeschwalben wiederum beruhigen sich schnell und gehen anderen Beschäftigungen nach. Das müssen sie auch, denn auf den beiden Nistflößen warten ihre Jungen auf Futter.

 

Nick Büscher indes berichtet von einem seiner größten Naturschutzerfolge. Mit seiner Gruppe des NABU in Rinteln ist es ihm gelungen, das Kiesteichgebiet in Hohenrode, fünf Kilometer östlich der Stadt Rinteln, auf immer und ewig für die Natur zu sichern. 113 Hektar für die Natur mitten im dicht besiedeten Wesertal, 113 Hektar „NABU-Auenlandschaft“ wie die Naturschützer ihr Gebiet liebevoll nennen. Doch von vorn: Im Jahr 1995 erhielt das traditionsreiche Rintelner Unternehmen „AHE Schamburger Weserkies“ mit dem Rintelner Dieter Eggersmann an der Spitze die Genehmigung, auf einer etwa 60 Hektar großen Fläche am linken Weserufer bei Hohenrode, einem Ortsteil Rintelns, Kies abzubauen. Diese Fläche wurde 2003 um weitere 60 Hektar erweitert. Ein von Eggersmann beauftragtes Büro fertigte mehrere Pläne mit unterschiedlichen Renaturierungsmöglichkeiten an und verständigte sich mit der zuständigen Genehmigungsbehörde auf einen Entwurf, der einer naturnahen Auenlandschaft am ehesten entsprach. Dazu zählten flache Ufer, Flachwasser- und Tiefenzonen im Wechsel, unterbrochen von mit Weiden und Erlen bewachsenen Landzungen und Inseln, offene und mit Röhricht bestandene Flächen und schließlich ein kleiner Badebereich für die Ortsbewohner, die mit dem Kies-Abbau für die nächsten Jahre ein gewisses Maß an Unannehmlichkeiten zu erwarten hatten. Der gewonnene Kies würde auf dem Wasserweg, also über die Weser, in das mehrere Kilometer entfernt liegende Verarbeitungswerk geschifft, um zusätzlichen Verkehr und Lärm im Dorf zu vermeiden. So kam es, und bis 2011 war ein Großteil des Geländes vom Mais- und Weizenacker zu einer Landschaft aus vier größeren und zwei kleineren Seen umgewandelt. Die Vision Eggersmanns, mit einer naturnahen Auenlandschaft den Eingriff zu kompensieren, wurde umgesetzt – und begeisterte auch die Naturschützer, die Bodenabbau grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Als der NABU Eggersmann im selben Jahr fragte, ob er dem Naturschutzverband das Gebiet nach Abbauende anvertrauen würde, um konkurrierende Nutzungen zu verhindern, sagte Eggersmann sofort zu. Er verkaufte es zu einem günstigen Preis an den NABU und schlug ein anderes Angebot, das ihm eine satte Million Euro mehr eingebracht hätte, aus. Zu wichtig war es dem 2013 unerwartet verstorbenem Unternehmer, das Gebiet „in guten Händen“ zu wissen. Die Weichen für die Entstehung eines wertvollen Feuchtgebietes waren damit endgültig gestellt. Die hier und da im Sinne der Natur modifizierten Renaturierungvorgaben schufen wichtige Voraussetzungen, und das vom NABU eingebrachte Know-how beim Biotop- und Artenschutz sorgt seitdem für eine entsprechende Lebensraumvielfalt. Der Landkreis Schaumburg erfüllte ebenfalls sein Ziel und wies wie geplant das Gebiet im November 2014 als Naturschutzgebiet (NSG) aus. Heute stellt sich das Gebiet als eine sehr heterogene Kiesseen-Landschaft dar. An den Ufern der zuerst ausgebaggerten Seen wachsen mittlerweile hohe Büsche und Bäume, an den später abgebauten Seen noch kleine Sträucher. Dazwischen liegen offene und zum Teil eingezäunte Bereiche, in denen Galloways als vierbeinige Landschaftsgärtner blütenreiche Flächen von Gehölzaufwuchs freihalten und den rund zehn Feldlerchenpaaren sowie anderen Offenlandarten unter den Vögeln den Lebensraum sichern. Kleinere Bereiche werden als Hochstaudenflächen entwickelt, auf denen Feldschwirle, Bluthänflinge, Dorngrasmücken und Goldammern brüten.

 

Im westlichen Bereich der Auenlandschaft wurde bis vor Kurzem noch abgebaut. Hier brüten gleich mehrere Flussregenpfeiferpaare, in den senkrechten Abbauwänden einige Dutzend Uferschwalben. Auf den beiden Inseln mit schütterer Vegetation nisten zahlreiche Graugänse, ein paar Reiherenten, ebenfalls Flussregenpfeifer und tatsächlich auch – und das überraschte selbst die Naturschützer – Kiebitze! Die schütter bewachsenen Bereiche scheinen ihnen zu gefallen. Hier finden sie Brutmöglichkeiten, Nahrung für ihre Jungvögel, und Füchse scheinen nicht oder nur selten auf den Inseln zu weilen. Gegen die Seeadler haben die Kiebitze ihre eigene Strategie entwickelt. Laut rufend lenken sie alle Aufmerksamkeit auf sich, wohl wissend, dass sie als wendige Flieger den Adlern leicht entkommen können. Die Jungvögel ducken sich derweil auf den Boden und entgehen zwischen Kamillepflanzen und Kiesschotter sogar den berüchtigten Adleraugen. Hier sind Gelege und die gräulichweißen Jungvögel nämlich bestens getarnt, viel besser als auf einem Acker oder in einer Feuchtwiese – ein Zeichen dafür, dass die heute fast überall verschwundenen Schotterbänke in Flüssen auch zu ihren primären Lebensräumen gehören.

 

Die Seeadler brüten dagegen im nahen Wald, die Bäume der Auenlandschaft sind noch zu klein und zu schwach, um das gewaltige Nest der Adler zu tragen. Die Rintelner Seeadler sind innerhalb Niedersachsen aber etwas Besonderes, denn sie sind hier an der Oberweser die ersten und bislang einzigen, die in diesem Bundesland in der Mittelgebirgslandschaft brüten. Nachdem ihr Nest 2014 noch von einem Sturm aus dem Baum gefegt worden war, zogen sie ein Jahr später erfolgreich zwei Jungvögel auf. Die ruhige NABU-Auenlandschaft gewährleistet, dass sie hier ungestört jagen können. Mit dem Erfolg sind die Rintelner Naturschützer noch nicht ganz zufrieden. Deshalb haben sie zusammen mit dem THW Rinteln für die kleineren Fischadler mittlerweile eine 14 Meter hohe Nisthilfe aufgestellt. „Auf dem Durchzug und selbst im Sommer sind Fischadler hier bereits regelmäßig zu sehen“, sagt Nick Büscher. In der Tat, Fotos von einem Fischadler auf der Nisthilfe gibt es schon, was Hoffnung aufkeimen lässt.

 

Schneller waren die Flussseeschwalben. Auf den beiden Nistflößen brüteten schon wenige Wochen nach deren Bau im April 2014 drei Paare erfolgreich und zogen sieben Jungvögel auf. 2015 waren es vier Paare, die in enger Gemeinschaft mit einem Sturmmöwenpaar brüteten, wobei sechs Seeschwalben und eine Sturmöwe ausflogen. Ebenso wie bei den Seeadlern handelt es sich bei den Seeschwalbenbruten um die ersten in der niedersächsischen Mittelgebirgslandschaft seit über 100, vermutlich sogar seit mehreren Hundert Jahren. Denn seit der Weserkorrektion sind die natürlichen Brutplätze in Form von Sand- und Kiesinseln in Niedersachsens zweitgrößtem Fluss verschwunden.

Im Winter ändert sich die Zusammensetzung der Vogelfauna. Während die Seeschwalben und Fischadler in Afrika weilen, tummeln sich Krick-, Tafel- und Schellenten sowie Gänse- und Zwergsäger auf den Seen. Die Gänsetrupps werden um Bläss- und Saatgänse erweitert, seltener sind Weißwangengänse und Singschwäne unter den Wintergästen. In den Schwarzerlen suchen Erlenzeisige nach Nahrung, in den Beerenbüschen Wacholder- und Rotdrosseln. Mit den ersten warmen Frühjahrstagen im April werden die Wintergäste weniger. Dann folgen Durchzügler, die auf dem Weg in ihre Brutgebiete im Norden Europas oder Sibiriens nur für wenige Minuten oder Stunden, oft aber auch einige Tage lang rasten: ganze Trupps von Kiebitzen, Wiesenpiepern, Thunbergschafstelzen und Feldlerchen. Manchmal sind auch einzelne Braunkehlchen und Steinschmätzer darunter. An den Ufern der Kiesseen sehen aufmerksame Beobachter Flussuferläufer, Grünschenkel sowie Bekassinen, und selbst Große Brachvögel und Regenbrachvögel waren hier schon zu Gast. In Zukunft wollen die Naturschützer einen weiteren Schritt wagen und zusammen mit der Naturschutzbehörde und der Stadt Rinteln die Natur für Menschen erlebbar machen. Dass dabei Zurückhaltung oberstes Gebot ist, darin sind sich alle einig. Eine weitere Gebietserschließung kommt nicht infrage, aber die beiden vorhandenen Wege sollen genutzt werden, um von einem Turm aus und aus einer Beobachtungshütte Seeadler, Flussseeschwalbe und Co. beobachten zu können. Das bewährte Rezept „Natur erleben, ohne selbst zu stören“ soll so auch hier umgesetzt werden. Aber nicht alles ist rosig im Weserbogen östlich von Rinteln. Während Landkreis und Eigentümer Störungen durch eine Angelnutzung verhindern wollen und die NSG-Verordnung die Sportfischerei nur im begrenzten Rahmen zulässt, versucht die Weserfischereigenossenschaft auf dem Klageweg eine intensive Nutzung des Gebietes für Fischer zu erreichen – gegen den Willen des Eigentümers und gegen das heutige Naturverständnis. Paradox: Der NABU müsste dann für viel Geld die Fischereirechte seines eigenen Grundstücks pachten, um Spielregeln für die Fischerei aufstellen zu können. Einen Teil des Geldes bekäme der NABU als Verpächter dann zurück – zwischendurch verdient die Genossenschaft, die per Gesetz an sich die Interessen der Eigentümer zu vertreten hat. Diese völlig überholte Gesetzgebung, die auch nur in Teilen Niedersachsens gilt, ist den Naturschützern natürlich ein Dorn im Auge und bemüht mittlerweile sogar die Landespolitik. Noch aber ist alles im Lot. Unser Seeadler hat – mit beiden Beinen im flachen Wasser stehend – getrunken und gebadet. Drei, vier Schritte, und er steht wieder auf dem trockenen Sand am Ufer. Für eine knappe Minute schließt er die Augen, zumindest scheint es so. Dann ein Schritt nach vorne, die gewaltigen Flügel öffnen sich und der Vogel hebt mit kräftigen Flügelschlägen ab. Die Gänse rufen, fliegen auf, die Enten folgen, Seeschwalben eilen herbei – es scheint für alle Beteiligten zur Routine geworden zu sein – ganz im Sinne von Dieter Eggersmann …