Lecanora dispersa, fotografiert von Christopher Engelhardt

Lecanoren – verkappte Becherlinge

Kleinen, stillen Mitbewohnern gelingt das Überleben, wo sonst fast niemand leben kann.


Text von Christopher Engelhardt

Noch lässt sich der Frühling in vielen Landesteilen Zeit, und bei mancher Exkursion draußen ist wegen der nur zögerlich steigenden Temperaturen noch „nicht viel los“. Eine gute Gelegenheit also, mal einen Blick auf die kleinen, stillen Mitbewohner zu werfen, die bereits den Winter über dort gelebt haben, wo sonst fast niemand leben kann: Auf glatter Baumrinde, auf Mauern, alten Grabsteinen und Beton siedeln eine Unzahl von Flechten, von denen viele – aus der Nähe betrachtet – an Farbe und Schönheit größeren Pflanzen und Tieren in nichts nachstehen. Besonders angetan haben es mir die Krustenflechten aus der Gattung der Lecanoren, die sich genau diesen unwirtlichen Lebensraum erkoren haben. Sie haben sich unlösbar eng an Haus- und Kirchenwänden, auf Gehwegen und an Buchenstämmen angeheftet und wachsen pro Jahr ein oder mehrere Millimeter nach allen Seiten. Die älteren von ihnen können schon auf Jahrzehnte ihrer bescheidenen Existenz zurückblicken. 

Eine Besonderheit der Lecanoren ist, dass sie aus einem krustigen, manchmal auch nur teilweise oder fast gar nicht sichtbaren Lager heraus rundliche bis eckige Fruchtkörper, sogenannte Apothecie,n ausbilden, deren Farbe und Form sehr unterschiedlich sein können und etwas über ihre Identität verraten. So können die Apothecienscheiben sehr unterschiedlich gefärbt sein, von beige über braun, dunkelbraun bis zu oliv, grün, rot, schwarz oder gelblich, sie können bereift oder unbereift, ihre Ränder dünn oder dick, rundlich oder verbogen sein. In ihrem Aussehen erinnern sie an kleine Becherlinge aus der Abteilung der Schlauchpilze. Und tatsächlich gehören sie taxonomisch zu diesen. Denn obwohl Flechten als „Mischlebewesen“ aus Pilz, Alge und Cyanobakterien als eigene Lebensform gelten, bilden sie wie die anderen Schlauchpilze ihre Sporen in „Sporenschläuchen“ aus. Die befinden sich bei diesen Flechten genauso wie bei den Becherlingen in der Fruchtschicht in der Scheibe des Apotheciums. Auch wenn man nicht tiefer in die Flechtenbestimmung einsteigen will: Faszinierend ist es allemal, sich mit Lupe oder Makrokamera einmal diese kleine, vielfältige, bunte Welt anzusehen, die dort existiert, wo sonst fast niemand leben kann: siehe oben.

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