Foto: Wasserfalle / Gaby Schulemann Maier

Grüne Fleischfresser

Klebrige Tentakeln, Blätter wie Tellereisen oder Saugfallen – Karnivoren zählen zu den faszinierendsten Vertretern des Pflanzenreichs, die auch in Deutschland zu Hause sind.


Text: Roy Fabian

Im Sommer 1860 kehrte Charles Darwin grübelnd von einem Ausflug durch die südenglische Grafschaft Sussex zurück: Auf einer Heide hatte er dort unzählige Exemplare der Pflanzenart Drosera rotundifolia entdeckt. Wie mit Tau waren ihre Blätter benetzt, und auf ihnen klebten Fliegen und sogar kleine Schmetterlinge. „Ich hatte wohl gehört, dass Insekten so gefangen würden, wusste aber nichts weiteres über diesen Gegenstand“, notierte Darwin später. Angetrieben von dieser Wissenslücke unterzog der große Naturforscher die besagte Drosera-Art, auch unter dem Namen Rundblättriger Sonnentau bekannt, sowie weitere kleingetierfangende Gewächse umfangreichen Beobachtungen und Experimenten. Seine 1875 im Buch „Insectivorous Plants – Insectenfressende Pflanzen“ veröffentlichten Resultate waren bahnbrechend: Auch die so harmlos anmutenden Geschöpfe der Florenreiche ernähren sich mitunter räuberisch. 

Heute sind weltweit etwa 700 Arten fleischfressender Pflanzen oder Karnivoren, wie sie auch genannt werden, bekannt – mit steigender Tendenz: „Fast jedes Jahr werden neue Arten entdeckt und beschrieben“, sagt der Botaniker Andreas Fleischmann, der sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Karnivoren beschäftigt. Die meisten Spezies konzentrieren sich auf einen Gürtel rund um den Äquator sowie den Südwestzipfel Australiens. Prinzipiell sind sie aber quer über den Globus verbreitet. Auch in Deutschland kommen 13 Arten vor, darunter der von Darwin untersuchte Rundblättrige Sonnentau. Ihr Grundprinzip ist immer dasselbe: „Karnivoren sind Pflanzen, die mit umgewandelten Blättern Tiere anlocken, fangen und verdauen, um die darin enthaltenen Nährstoffe aufzunehmen und zu verwerten“, sagt Fleischmann. „Sie düngen sich also selbst.“ 

Allerdings verzichten sie keineswegs auf Photosynthese. Dank ihrer erstaunlichen Ernährungsweise können sie Standorte erobern, die vielen Pflanzen verschlossen bleiben. Moore und stehende Gewässer gehören dazu, ebenso zeitweise überflutete Sandflächen oder Felsen, wo lebenswichtige Elemente wie Stickstoff, Phosphor oder Magnesium Mangelware sind. Um trotzdem ihren Speiseplan decken zu können, gehen Karnivoren auf die Jagd – und erwischen dabei nicht nur Insekten. In den Blattkannen großer asiatischer Arten haben Forscher schon Frösche, Kriechtiere und sogar Ratten gefunden. 

Für derartig große Beute sind die hierzulande wachsenden Spezies zu klein, ein Grund, warum sie oft übersehen werden. Der Rundblättrigen Sonnentau zum Beispiel wächst vorzugsweise in Hochmooren und ihren Moosgesellschaften, weil dort der Stickstoffanteil deutlich geringer ist als in Niedermooren. Seine grundständige Rosette misst im Durchmesser kaum mehr als fünf Zentimeter. Seine drei bis sechs Blattstiele münden in kreisrunde Klebfallen mit langen, schleimbesetzten Drüsen. Die Köpfchen dieser „Tentakeln“, wie Darwin sie nannte, sind rot gefärbt, was vor dem Grün der Blätter für Insekten unwiderstehlich wirkt. „Insekten reagieren vor allem auf Kontraste, denn diese signalisieren ihnen Blüten, also Nahrung. Dazu kommen die Lichtreflexe des Schleims, die an Tau oder Nektar erinnern“, sagt Fleischmann.

Gerät ein Insekt in diese Blütenmimikry, bleibt es haften und hat wenig Fluchtchancen. Durch den mechanischen Reiz des zappelnden Opfers biegt sich der betreffende Sonnentau-Tentakel nämlich aktiv zur Blattmitte. Bei Bedarf kommen ihm weitere Tentakeln zur Hilfe, und oft krümmt sich sogar die gesamte Falle um die Beute, die letztlich im Schleim erstickt. Zeitgleich sondern auf dem Blattgrund sitzende Drüsen Enzyme ab, welche die tierischen Proteine zersetzen, und nehmen ebenso wie die Tentakelköpfchen die gelösten Nährstoffe auf – ein Prozess, der meist mehrere Tage andauert, wobei der zuckerhaltige und saure Schleim verhindert, dass sich Schimmelpilze auf der Beute ansiedeln. 

Doch auch der Sonnentau benötigt Bestäuber, die ihm natürlich nicht in die klebrige Falle gehen dürfen. Seine weißen Blütentrauben sitzen daher an langen Stängeln – weit entfernt von den flach am Boden liegenden Blätter mit den Klebefallen. Die beiden anderen heimischen Arten Mittlerer (Drosera intermedia) und Langblättriger Sonnentau (Drosera anglica) verfahren ähnlich und haben sich mit ihren aufwärts gerichteten Blätter an nasse Habitate wie Wasserrinnen von Mooren angepasst. Der Mittlere Sonnentau wächst vor allem im Norden, der Langblättrige Sonnentau im Süden Deutschlands.

Auch die Fettkräuter gehören zu den mit Klebfallen operierenden Karnivoren. Ihre fleischigen, am Boden aufliegenden Blätter sind mit feinen Schleimtropfen besetzt, was ihnen einen fettigen Glanz verleiht und kleine Insekten wie Trauermücken anlockt. Die Gattung ist in hiesigen Breiten mit zwei Arten vertreten: Das Alpenfettkraut (Pinguicula alpina) besiedelt sumpfige bis trockenere Standorte in den Bergen, vor allem in den Alpen. Das Gemeine Fettkraut (Pinguicula vulgaris), dessen violette Blüten an Veilchen erinnern, gedeiht dagegen bis in den Norden Deutschlands. Interessanterweise ernährt es sich überwiegend von vegetarischer Kost. Mehr als die Hälfte der aufgenommenen Proteine entstammt den Pollen anderer Pflanzen, die an den Blättern haften bleiben. „Für die Enzyme der Karnivoren spielt es keine Rolle, um welche Art von Eiweiß es sich handelt“, sagt Botaniker Fleischmann. „Man könnte theoretisch auch ein Stück Käse auf ein solches Blatt legen. Das ist denen völlig egal.“ 

Hin und wieder kann es jedoch passieren, dass jemand anderes die proteinreiche Beute stibitzt. So jagt die Schwarzglänzende Moorameise (Formica transkaukasica) kaum selbst und pickt stattdessen ganz gezielt Insekten von Sonnentaublättern herunter. Auch Wolfs- und Springspinnen betreiben mitunter Mundraub. Zudem haben sich einige räuberische Schneckenarten darauf spezialisiert, die Blätter der Fettkräuter abzuweiden. 

Eine ganz andere Jagdmethode als Sonnentau und Fettkräuter praktizieren der Gewöhnliche (Utricularia vulgaris) und der Südliche Wasserschlauch (Utricularia australis), auch Verkannter Wasserschlauch genannt. Sie schweben als wurzellose Matten in stehenden Süßgewässern, und meist sind nur ihre gelben Blütenstände über der Wasseroberfläche zu sehen. Mit unzähligen Fangblasen stellen die Pflanzen Wasserflöhen, Insektenlarven, Fischbrut, Schnecken und Algen nach. Ihre Anlockstrategie ist noch nicht abschließend geklärt, zweifelsfrei zählen die Wasserschlauch-Fallen jedoch zu den gewieftesten Konstruktionen im Pflanzenreich: Eine antennenartige Reusenstruktur leitet die Beute zum Eingang der Fangblase. In dieser herrscht ein per Osmose hergestellter Unterdruck, der durch eine nur nach innen öffnende Klappe aufrecht erhalten wird. Werden die davor befindlichen Fühlborsten berührt, schnellt die Klappe innerhalb von 0,002 Sekunden zurück, wobei der entstehende Sog das Opfer in das Blaseninnere spült. Noch während der Verdauung wird das Wasser wieder nach außen gepumpt, um die Falle erneut zum Einsatz zu bringen. 

Ebenfalls in Süßgewässern ist die krautige und bis zu 30 Zentimeter lange Wasserfalle Aldrovanda vesiculosa zu Hause. Sie ist mit Ausnahme von Amerika und der Antarktis auf allen Kontinenten vertreten. Ihre wirtelig, also aus einem Knoten entspringenden und um den Spross angeordneten Blätter, sind zu wenige Millimeter großen Klappfallen umgestaltet, die denen der verwandten Venusfliegenfalle aus Nordamerika ähneln. Gerät ein Beutetier, meist kleine Wasserkrebse sowie die Larven von Mücken oder Eintagsfliegen, in diesen v-förmigen „Blattspalt“, knickt es die dort befindlichen Fühlborsten ab. In der Folge bildet sich ein elektrischer Impuls, der in Sekundenbruchteilen zum Abfall des Zellendrucks auf der Blattinnenseite führt: Die Falle schließt sich wie ein Tellereisen.

Leider ist die Wasserfalle in Deutschland ausgerottet. „Die heute bekannten Vorkommen sind alle angesalbt, also durch den Menschen ausgebracht,“ sagt Andreas Fleischmann, so auch in der Wahner Heide bei Köln, in Worms und Brandenburg. Ihr letztes Wildvorkommen in einem Weiher am Bodensee ist schon vor 20 Jahren erloschen. „Da gab es durch die angrenzende Landwirtschaft einfach zu viel Nährstoffeintrag.“ Das ist nicht nur für die Wasserfalle ein Problem: Auch natürlicherweise stickstoffarme Sumpfgebiete können durch Stickstoffeinträge aus Ackerbau, Verkehr oder Industrie schnell mit Gräsern und Gehölzen zuwuchern. Die kleinen und konkurrenzschwachen Sonnentau-Arten geraten dann ins Hintertreffen. Nicht von ungefähr gilt der laut Roter Liste gefährdete Rundblättrige Sonnentau in zahlreichen Naturschutzprojekten als Zielart, was bedeutet: Hat der Sonnentau gute Standortbedingungen, profitieren auch andere Spezies der Moore. Fleischmanns Beobachtungen zufolge greifen entsprechende Schutzprogramme inzwischen recht gut, zumal Moore als Kohlenstoffspeicher dabei helfen, die Kohlendioxid-Bilanz zu verbessern. Ein anderes Problem wird dadurch freilich nicht gelöst. Die heimischen Karnivoren werden als botanische Besonderheiten gern ausgegraben, um sie dann im eigenen Garten oder der Fensterbank zu kultivieren. „Dabei ist das völlig unnötig“, sagt der Biologe. Tatsächlich existieren längst Spezialgärtnereien, die fleischfressende Pflanzen aus wenigen Samen zu Tausenden vermehren und an Blumenhändler, Pflanzenhöfe und Baumärkte liefern. 

Insofern lassen sich Karnivoren nicht nur in freier Natur, sondern auch auf der heimischen Fensterbank studieren – was eine äußerst faszinierende Angelegenheit sein kann: „Ich habe mich unendlich an der Arbeit mit Drosera ergötzt“, schrieb Charles Darwin im Spätherbst 1860 an befreundete Kollegen. „Im Moment ist mir das wichtiger als die Abstammung aller Arten in der Welt.“

 

Wer Karnivoren nicht nur in Botanischen Gärten oder Baumärkten sehen will: unter www.naturgucker.de den jeweiligen Artnamen unter „suche: art/artgruppe“ eingeben, und dann auf „beobachtungen“ klicken.

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