Foto: Hufeisennase / Rudolf Leitl und Geronimo Heibl

Batmans letzte Bastion

Fledermäuse sind einzigartig, aber leider schwer zu beobachten. Geronimo Heibl hat die extrem gefährdeten Großen Hufeisennasen besucht.


Text: Geronimo Heibl

Schauerlich ragt die von Bäumen umsäumte Ruine der Hohenburg Ende Juni in den Abendhimmel. Die Szene wirkt fast wie aus einem Roman von Bram Stoker, dem Dracula-Autoren. Ein paar Rinder grasen gemächlich auf den Wiesen, die, wie ich später erfahre, keine unwesentliche Rolle im Schutz der Fledermäuse spielen. Fledermäuse zu beobachten ist aufgrund der nächtlichen und heimlichen Lebensweise dieser Tiere noch schwieriger, als das bei mancher Vogelart der Fall ist. Eine Möglichkeit das dennoch zu tun, bietet der Besuch des Fledermaushauses in Hohenburg in Bayern. Noch dazu kann man hier nicht „irgendeine“ Fledermaus antreffen, sondern eine der größten und seltensten Arten Europas: die wärmeliebende Große Hufeisennase (Rhinolophus ferrumequinum). Sie ist mit einer Länge von maximal sieben Zentimetern (ohne Schwanz) und einer Flügelspannweite von bis zu 40 Zentimetern die größte europäische Hufeisennasenart und hinter Riesenabendsegler und Großen Abendsegler die größte europäische Fledermaus. Mit ihrer hufeisenförmigen Nase ist sie unverkennbar, allenfalls die zierlichere Kleine Hufeisennase (Rhinolophus hipposideros) sieht ihr ähnlich. In Deutschland steht die Große Hufeisennase unmittelbar vom Aussterben. In Hohenburg lebt derzeit die letzte bekannte Kolonie. In Rheinland-Pfalz wurden und werden immer wieder Einzeltiere gesichtet. In Mitteleuropa sind nur noch einzelne Kolonien in der Schweiz, Luxemburg und in Österreich bekannt: Die mit etwa 140 Tieren größte Kolonie befindet sich in der Kirche Castrisch im Bündner Vorderrheintal, in Österreich existieren einige wenige kleine Vorkommen in den südlichen Bundesländern, größere im norditalienischen Südtirol. Eine weitere sich fortpflanzende Population lebt an der Obermosel in Luxemburg. Aufgrund der großen Gefährdung wird diese Art durch ein Life-Projekt der EU unterstützt.

In Hohenburg habe ich mich mit Rudolf Leitl verabredet, dem Betreuer der Großen Hufeisennasen. Im Hof eines alten Anwesens steht ein ehemaliger Hopfenspeicher, der das Wochenstube genannte Fortpflanzungsquartier beherbergt. Über dem Eingang der „Pension Fledermaus“ nebenan hängt ein großes Fledermaus-Schild herab, und der örtliche Konditor verkauft kleine Schokofledermäuse. Rudolf Leitl nennt seine Schützlinge liebevoll „Hufis“, kennt nahezu jedes Tier und weiß mittlerweile so viel über deren Verhalten wie wohl kein anderer. Er umsorgt sie wie eine kleine Familie, zählt die Individuen, kontrolliert die Geburten und führt akribisch Buch über Ausflugzeiten und Rückkehr. Den unteren Bereich des Hopfenstadels hat Leitl als Überwinterungsplatz für die Tiere in eine Art Stollen umgebaut, mit einem gekonnt ausgeklügelten Einflugsystem aus Holzplatten, die exakt für das benötigte Raumklima in den Wintermonaten sorgen. Davor befindet sich am Boden ein flaches Wasserbecken, aus dem heraus die Hufeisennasen im Flug trinken können. Mittels moderner Video-Überwachungstechnik mit Infrarotkameras kann Leitl jede Bewegung und Veränderung der Fledermauskolonie auf einem großen Monitor im Vorderhaus mitverfolgen. 

Entdeckt wurde die Kolonie 1992. Nachdem immer wieder einzelne Große Hufeisennasen beim Winterschlaf in den großen Karsthöhlen in der Nähe gefunden worden waren, hatte man die Hoffnung, dass es irgendwo in der Nähe noch eine Wochenstube geben könnte. Und so startete die Koordinationsstelle für Fledermausschutz Nordbayern ein Such-Projekt. Mit feinen Netzen fingen die Naturschützer Große Hufeisennasen statteten sie mit Mini-Sendern aus. Die Peilsignale führten dann zu eben jenem alten Hohenburger Fachwerkstadel, in dem die Fledermausschützer 14 erwachsene und zehn junge Große Hufeisennasen entdeckten. Das ganze Anwesen war einsturzgefährdet, konnte aber zwischen 2009 und 2011 statisch gesichert und saniert werden. Im Rahmen des Life-Projektes wurde es dann entsprechend eingerichtet. 

Ursprünglich war die Große Hufeisennase nicht selten, noch in 1950er Jahren war sie in der ganzen Frankenalb weit verbreitet. Die letzte Kolonie befand sich im Schloss Prunn im Altmühltal. 1987 bestand sie nur mehr aus zwei Weibchen, wovon eines ein Junges bekam. 1988 blieb dann der Dachboden des Schlosses leer, und die Wochenstube war ausgestorben. Allerdings wird im Schulerloch, einer großen Schauhöhle, alljährlich an der gleichen Stelle eine überwinternde Große Hufeisennase gefunden. „Lonely George“, wie sie inzwischen genannt wird, wobei das Geschlecht nicht bekannt ist, könnte dieses letztgeborene Jungtier sein – und würde dann jetzt 29 Jahre alt. Mit etwa dreißig Jahren Lebenserwartung gehört die Große Hufeisennase zu den langlebigsten Fledermäusen Europas. Neben der Kolonie in Hohenburg ist Lonely George die letzte überlebende Große Hufeisennase der Frankenalb-Population.

Aber warum konnte die Art ausgerechnet in diesem Stadel in Hohenburg überleben? In der Umgebung gebe es einige für Besucher gesperrte frostfreie Karsthöhlen, in denen die Tiere ihre Winterquartiere beziehen und die kalte Jahreszeit ungestört verbringen könnten, meint Leitl. Einladend auf die Hufeisennasen wirken in Hohenburg viele alte, leerstehende Gebäude mit freien Einflügen und warmen Dachböden, die die Tiere für die Aufzucht ihrer Jungen benötigen. Außerdem bietet der angrenzende Truppenübungsplatz pestizid- und düngemittelfreie, strukturreiche Flächen mit einer Vielzahl von Beute-Insekten: Ganze 106 Tagfalterarten wurden hier schon nachgewiesen, Rekord in Mitteleuropa. Eine wichtige Rolle spielt auch die extensive Beweidung mit Schafen und Rindern, die sich im Lauterachtal und auf dem Schießplatz erhalten hat – denn Große Hufeisennasen ernähren sich in Spätsommer und Herbst neben Schnaken und Nachtfaltern vor allem von Dungkäfern – und Rhizotrogus cicatricosus – einem Warmzeitrelikt, das keinen deutschen Namen hat. Dieser Verwandte des Maikäfers lebt nur hier und bewohnt südexponierte Kalkmagerrasen mit Kiefern. Sobald der Schnee geschmolzen ist, kommt er in der Dämmerung aus dem Boden und fliegt in die Baumzweige empor, um dort die Kiefernnadeln zu fressen. Und genau dann schlägt die Stunde der Hufeisennase. Aus hängender Position heraus stürzt sie sich auf die Beute oder „keschert“ diese in kurzen Verfolgungsflügen mit ihren Schwingen aus der Luft. Mit ihrem Echoortungssystem, dem komplexesten im ganzen Tierreich, können Hufeisennasen sogar Insektenarten voneinander unterscheiden. Eine Besonderheit der Hufeisennasen ist, dass sie gleichzeitig rufen und horchen können. Etwa acht Gramm Futter werden pro Jagdflug erbeutet. Die Paarung findet im Herbst meist in speziellen Paarungsquartieren statt. Nach der Kopulation werden die Spermien in der Gebärmutter gespeichert, die Befruchtung erfolgt aber erst im nächsten Frühjahr. Ist das Weibchen kräftig und das Futterangebot wetterbedingt groß genug – in der Zeit der Jungenaufzucht ist eine warme und trockene Witterung günstig – kommt im Juni jeweils eine junge Fledermaus zur Welt. Bereits in den ersten Lebensstunden trainiert das Neugeborene am Mutterleib hängend seine Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Deswegen ist die Motorik der Jungtiere schon am ersten Abend weit genug entwickelt, um sich selbst an der Decke der Wochenstube festzuhalten, während die Mutter zur Jagd aufbricht. Neben den Müttern halten sich in der Wochenstube junge Weibchen auf. Junge Männchen dagegen müssen diese nach der Geschlechtsreife verlassen. Die adulten Männchen bleiben der Wochenstube meist fern und nutzen als Tagesquartier andere Gebäude oder auch Höhlen. 

Zusammen mit Leitl blicke ich nun auf den Bildschirm, sehe die Hufeisennasen an der Decke des Fachwerkstadels und kann ein seltsames Verhalten beobachten: Bei kühler Witterung, so auch heute, hängen die Fledermäuse in Clustern zusammen, und von Zeit zu Zeit geht ein wellenartiges Rütteln durch die Tiere. „Vermutlich findet bei den dicht gedrängten Fledermauskörpern so eine Art Wärmeaustausch statt“, erklärt Leitl. Vor dem abendlichen Jagdflug setzen die Weibchen ihre Jungtiere nun in kleinen „Kindergärten“ im Gebälk ab. Jetzt, es ist 22 Uhr, beginnt die erste Jagdphase, eine weitere folgt gegen ein Uhr. Dazu sammeln sich die Tiere am Ausflugsfenster direkt unter dem Dachgiebel. Plötzlich schwärmen sie in die Nacht hinaus. Mit einem Fledermausdetektor können wir im Innenhof ihre Ultraschallrufe hörbar machen und eindeutig bestimmen: Die Tiere stoßen laute, pfeifende Töne in einer Hauptfrequenz von 80.000 bis etwa 84.000 Hertz (Hz) aus – Menschen können nur Schall zwischen 16 und etwa 21.000 Hz hören. Nach fünfzehn Minuten kehren die Mütter mit vollen Bäuchen zurück und holen nach einer kurzen Putz- und Verdauungsaktion ihren Nachwuchs wieder ab. Ihr Junges erkennen sie dabei am Geruch und über die Rufe. Im Alter von etwa vier Wochen fliegen die Jungtiere im Juli aus und erkunden die ganze Gegend auf der Suche nach guten Jagdgründen und geeigneten Winterquartieren.

Geht das Nahrungsangebot zurück und wird das Wetter merklich kälter, finden sich die Fledermäuse in ihren Winterquartieren ein. In milden Winterphasen, wenn Insekten wie Wintermücken aktiv sind, können durchaus einzelne Tiere jagen. Vermutlich sind das diejenigen, die zu wenig Winterspeck haben und sonst verhungern würden.

Der Höchststand der adulten Tiere in Hohenburg lag bei der Sommerzählung 2015 bei 142 adulten Tieren und erfreulichen 49 Geburten – eine deutliche Steigerung gegenüber 1996, als nur noch 18 adulte Tiere in der Wochenstube lebten. Dieser Erfolg gilt als kleine Sensation unter Naturfreunden und ist auf den unermüdlichen Fleiß und Einsatz von Menschen wie Rudolf Leitl zurückzuführen. Obwohl die Zahl der Tiere wächst, kann ein Blitzschlag in die Wochenstube oder eine Infektionskrankheit die ganze Kolonie auslöschen. Um für eine Vergrößerung des Bestandes zu sorgen, schafft das Life-Projekt daher neue Jagdlebensräume außerhalb des Übungsplatzes. Seit 2013 gibt es schon erste Anzeichen einer Ausbreitung in ein angrenzendes Gebiet – einzelne Exemplare wurden in Höhlen 30 bis 40 Kilometer entfernt entdeckt.

naturgucker.de