Brennesselbecherchen (Calloria neglecta, Syn. Callorina fusarioides) fotografiert von Christopher Engelhardt

Alte Stängel neu besehen

Kennen Sie Brennesselbecherchen?


Text: Christopher Engelhardt

Heute stelle ich Ihnen ein kleines, aber feines Frühjahrspilzchen vor, dass Sie garantiert in Ihrer unmittelbaren Umgebung finden, vielleicht sogar in Ihrem eigenen Garten – falls Sie den nicht allzu schlimm „aufgeräumt“ haben. Suchen Sie mal in einer Gartenecke, am Straßenrand, auf einer Brachfläche, im Industriegebiet oder am Waldrand nach einem alten Brennesselbestand, und brechen einen oder mehrere vertrocknete, vorjährige Brennesselstängel ganz unten ab. Keine Sorge: Hier brennt nichts mehr, wenn Sie die alten Stängel in die Hand nehmen. Schon nach kurzer Suche lassen sich meistens schon mit bloßem Auge gesellig bis rasig wachsende, orange-gelbliche Flecken erkennen, die sich unter der Lupe als kleine Polster oder Schalen entpuppen. Es handelt sich um das 0,5 bis 1 Millimeter kleine Brennesselbecherchen (Calloria neglecta, Syn. Callorina fusarioides), einen Schlauchpilz, der jetzt damit beschäftigt ist, die Brennesselreste vom letzten Jahr zu verarbeiten. Im zeitigen Frühjahr tritt der Pilz dabei in seinem eher polsterförmigen und mehr längsgestreckten, so genannten Konidienstadium auf, bei dem nur asexuelle, aus Abschnürung entstandene Sporen gebildet werden. Später im April und Mai überwiegen dann die ebenfalls orangefarbenen bis hellroten, ähnlich aussehenden Hauptfruchtformen, die scheiben- bis linsenförmig auf den Halmen sitzen und bei denen die Sporen – wie bei Schlauchpilzen üblich – in mikroskopisch kleinen Schläuchen gebildet werden. Meist sind die Brennesselbecherchen bei ihrer Arbeit nicht allein. Fast immer findet man in ihrer Nähe auch den Zugespitzten Kugelpilz (Leptophaeria acuta), der wie eine halbmillimeter kleine Kugel mit oben aufsitzendem Zipfel aussieht. Und manchmal wächst da auch noch ein kleines „Wäldchen“ aus millimeterhohen schwarzen Bäumchen, der Jochpilz (Zygomyzet) namens Dendryphion comosum. Insgesamt haben sich mehr als 20 Kleinpilzarten auf die Brennessel spezialisiert – ein fast unbemerkter Mikrokosmos von Lebensformen auf den Resten von etwas, das die meisten Menschen nur als „Unkraut“ wahrnehmen.

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